Eines Nachts beobachtet die junge Mutter Stella ein schreckliches Verbrechen von ihrem Fenster aus. Der Thriller-Auftakt von „Was in jener Nacht geschah“ führt jedoch in die Irre.
Der Debütroman der kanadischen Schriftstellerin Katherena Vermette beginnt wie ein Thriller, entpuppt sich dann aber überraschend als Familiendrama über Missbrauch und Gewalt.
In einer kalten, verschneiten Nacht beobachtet die frisch gebackene Mutter Stella ein schreckliches Verbrechen von ihrem Fenster aus. Auf dem brachliegenden Gelände nahe des Hauses wird offenbar ein Mädchen brutal vergewaltigt und zusammengeschlagen. Als die Polizei endlich eintrifft, sind allerdings nur Blutspuren und Scherben im Schnee zurückgeblieben.
Für die Beamten scheint das kein Grund zur Besorgnis. Die aufgelöste Stella fühlt sich von diesen so gar nicht ernst genommen. War die junge Frau etwa nur übermüdet, weil ihr das Baby zuletzt viel Schlaf geraubt hat? Auch als ihr Mann endlich von seiner Nachtschicht heimkommt, scheint er an Stella zu zweifeln. Er verweist auf ihre eigene dunkle Vergangenheit. Aber haben ihr tatsächlich ihre schrecklichen Erinnerungen einen Streich gespielt und sie eine harmlose Szene falsch interpretieren lassen?
Am Rande der kanadischen Stadt Winnipeg gibt es häufig Schlägereien und Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden. Hier wohnen vorwiegend Menschen indianischer Abstimmung, die sehr viel Alltagsrassismus erfahren. Besonders die Bevölkerung der Métis mit indianisch-europäischen Wurzeln, zu der auch Stella gehört, leidet unter einer allgegenwärtigen Diskriminierung.
Die Frauen der Métis-Gemeinschaft müssen in Vermettes Roman aber noch viel schlimmere Kämpfe austragen: Seit Generationen werden sie Opfer von Gewalt und Missbrauch durch die Männer in ihrem Leben. Erschreckend ist vor allem die Selbstverständlichkeit solcher Übergriffe: Die Frauen in Stellas Familie haben nicht gelernt, sich gegen die Täter zu wehren, sondern das Grauen zu akzeptieren.
Doch Stella scheint endlich wachgerüttelt durch das Verbrechen, das sie beobachtet hat. Es nagt noch mehr an ihr, als sie schließlich erfährt, wer das Opfer ist. Auch den jungen Polizisten Tommy, selbst ein Métis, beschäftigt die furchtbare Tat. Er engagiert sich mehr als seine weißen Kollegen, diese aufzuklären.
Allerdings dreht sich „Was in jener Nacht geschah“ weniger um die Ermittlungen und die Überführung der Verantwortlichen. Nach der Thriller-Prämisse ihrer Geschichte legt Vermette den Fokus auf tragische Frauenschicksale innerhalb einer Métis-Familie. Dafür wechselt sie nahezu in jedem Kapitel die Perspektive, jongliert so mit einer Vielzahl an Figuren.
Erst nach und nach werden ihre Beziehungen zueinander klar. Zu Beginn fällt es beim Lesen sehr schwer, den Überblick zu behalten – selbst mit der Stammbaumhilfe hinten im Buch. Irritierend ist zudem das gelegentliche Springen in die Ich-Perspektive, während Vermette sonst in der dritten Person schreibt.
Es ist ein ständiges Hin und Her: Kaum wird man mit einem Charakter warm, widmet sich die Autorin schon dem nächsten. Eine klassische Protagonistin fehlt der Geschichte genauso wie ein packender Spannungsbogen. Sie lebt mehr von der düsteren Atmosphäre und der verzweifelten Stimmung. Beides weiß Vermette schnell zu etablieren.
Der ernsten Thematik wird sie mit viel Feingefühl und sehr realistisch geschilderten Szenen gerecht. Figuren wie Stella und die pubertierende Emily hätte sie aber durchaus noch detaillierter ergründen dürfen. Dafür bleibt ihr aber keine Zeit, weil sie es versäumt hat, sich auf zwei, drei Hauptcharaktere festzulegen. Das hätte dem Roman sicher noch mehr Intensität verliehen.
Vielleicht hat sich Katherena Vermette aber bewusst dagegen entschieden, um eines klarzumachen: Es geht hier nicht nur um wenige Einzelschicksale, sondern um ein generelles Problem. Die 42-jährige Autorin und Filmemacherin stammt selbst aus Winnipeg und ist indigener Abstammung. Ihre Kenntnisse über die Kultur und Traditionen der Métis macht ihre Erzählung besonders authentisch.
Da „Was in jener Nacht geschah“ vom Verlag als Thriller vermarktet wird, dürften sich zumindest Spontan-Käufer mit einer völlig falschen Erwartungshaltung ans Lesen machen. Eine Enttäuschung ist abzusehen, da im Buch eindeutig das Drama und nicht die Spannung im Vordergrund steht.
Mehr Infos zur Autorin: www.katherenavermette.com
„Was in jener Nacht geschah“ von Katherena Vermette ist am 04. März 2019 im btb Verlag erschienen.
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