Nach ihrem Sieg beim ESC ist die italienische Rockband Måneskin eingeschlagen wie eine Bombe. Mit ihrem neuen Werk „Rush!“ will sie nun ein bisschen zu sehr gefallen.
Nach ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest ist die italienische Rockband Måneskin eingeschlagen wie eine Bombe. Mit ihrem neuen Werk „Rush!“ will sie nun ein bisschen zu sehr gefallen.
Wer schon einmal eine Musik-Castingshow verfolgt hat, kennt das Phänomen: Es gibt Kandidatinnen und Kandidaten, die schwärmen erst einmal in den höchsten Tönen von sich, bevor sie tatsächlich einen ersten Ton singen. Das lässt Böses erahnen und nicht selten verpuffen die großen Versprechungen mit dem solchen.
Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: Einige Sprücheklopfer überraschen mit richtig viel Talent und Stimmgewalt. Ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein und exzentrisches Auftreten setzen sie ganz bewusst ein: Sie wollen provozieren und gerne auch polarisieren. Es gilt aufzufallen um jeden Preis, um partout in Erinnerung zu bleiben.
So ähnlich verhält es sich mit Måneskin. Mit ihrem Titel „Zitti E Buoni“ holte das perfekt durchgestylte Rock-Quartett aus Rom den Sieg für Italien beim Eurovision Song Contest 2021. Gleich während der Show in Rotterdam kam es zu einem Skandal. Die Kamera erwischte Frontmann Damiano David bei der Punktevergabe in einem unglücklichen Moment. Millionen vor den Bildschirmen fragten sich: Hat der sich etwa gerade eine Line Kokain gezogen?!
Nein, hat er nicht. Der Sänger absolvierte nach dem Event einen Drogentest, der negativ ausfiel. Die Beweisaktion sorgte aber natürlich sogleich für viel Medienaufmerksamkeit. Die PR-Maschine funktioniert bestens bei Måneskin. Vielleicht ist es der Band auch deshalb als einer der wenigen ESC-Gewinner-Acts der vergangenen Jahre gelungen, sich innerhalb kürzester Zeit international durchzusetzen. Selbst in den US-Charts konnten sich Damiano, Gitarrist Thomas Raggi, Bassistin Victoria De Angelis und Drummer Ethan Torchio platzieren.
Dafür feiern sich Måneskin gerne als neue Rock-Sensation und betonen immer wieder, sich von Mainstream-Bands zu unterscheiden. Ihre Musik sei eben handgemacht und authentisch. Das jüngst veröffentlichtes Album „Rush!“ zeigt, wie weit dieses selbst auferlegte Image von der Realität entfernt ist.
Mit dem Schweden Max Martin haben sich Måneskin für ihren dritten Longplayer einen der kommerziell erfolgreichsten Produzenten überhaupt ins Boot geholt. Der zauberte schon Hits für Britney Spears, die Backstreet Boys und Katy Perry. Es geht auf „Rush!“ also ganz klar in Richtung Pop, wenn auch im rockigen Gewand. Alle 17 Songs, darunter die bereits bekannten Singles „Mammamia“ und „The Loneliest“, kommen sehr eingängig und in radiokompatibler Länge daher. Wie war das also mit Mainstream?!
Ein Kompromiss zugunsten der breiten Masse schmerzt besonders: Konzentrierte sich das Vierergespann bislang hauptsächlich auf italienische Texte, dominieren nun die englischen Lyrics, die mit Unterstützung von diversen Co-Autoren entstanden sind. Gerade mal drei Songs steuern Måneskin noch in ihrer Muttersprache bei – die wirbelnde Uptempo-Nummer „Mark Chapman“, betitelt nach dem Mörder John Lennons, das kratzig-lärmende „La Fine“ und die leicht verschleppte Rockballade „Il Dondo Della Vita“. In diesen drei Fällen klingt die Band tatsächlich authentisch.
Mit dem Wechsel ins Englische mag sie fortan ein größeres internationales Publikum ansprechen, lässt aber auch eine ihrer Besonderheiten fallen. Immerhin büßt Davids Stimme in der Fremdsprache nichts an ihrem großen Wiedererkennungswert und ihrer Ausdrucksstärke ein. Doch sein Organ bleibt nun das einzig echte Alleinstellungsmerkmal von Måneskin. Denn natürlich erfinden sie den Rock 'n' Roll nicht neu. Vielmehr servieren sie eine Art „Red Hot Chili Peppers meets The White Stripes“ mit einem Hauch von Placebo, Maroon 5 und Thirty Seconds To Mars. Dazu noch eine ordentliche Prise Glam Rock – fertig ist der gefällige und absolut berechenbare Mix!
Die meisten Songs basieren auf knackigen, aber sehr simplen Riffs, die Basslinien grooven angenehm. Gleichzeitig verfügen sie über einen stark repetitiven Charakter, vor allem wenn sich Damiano wie in „Bla Bla Bla“ und „Feel“ zu Lautmalereien hinreißen lässt. Das funktioniert live mit einem grölenden Publikum sicherlich bestens. Auf Platte wird das aber sehr schnell sehr anstrengend. Den Texten fehlt es entsprechend an Tiefgang. Zeilen über Partys, Drogen, Sex und Einsamkeit sowie viele selbstironische Referenzen – arg viel mehr hat „Rush!“ inhaltlich nicht zu bieten.
Måneskin scheuen die Extreme: Es wird nur kurzzeitig mal etwas kuschelig („If Not For You“) oder punkig-rebellisch („Kool Kids“). Schließlich sollen weder Rock- noch Pop-Fans in die Flucht geschlagen werden. Mit Stücken wie dem mit Tom Morello (Rage Against The Machine, Audioslave) aufgenommenen „Gossip“, dem betörenden „Gasoline“ sowie dem refrainstarken „Read Your Diary“ können definitiv beide Seiten gut leben.
„Rush!“ will möglichst viele erreichen. Wenig überraschend kam es vor dem Release zu einer weiteren PR-Aktion, um neue Schlagzeilen zu generieren: Victoria, Damiano, Thomas und Ethan schwörten sich bei einer gemeinsamen „Hochzeitszeremonie“ ewige Treue.
Mal schauen, wie lange es auf den ersten Ehebruch zu warten gilt. Denn vielleicht scheitert das Projekt Måneskin am Ende wie besagtes Casting-Talent an der aufgesetzten Attitüde und dem zu großen Ego. Die Band begann ihre Karriere übrigens bei der italienischen Ausgabe von „X Factor“, belegte 2017 aber schließlich nur den zweiten Platz hinter Popsänger Lorenzo Licitra. Der überzeugte am Ende möglicherweise mit seinem charmant-natürlichen Typ-von-neban-Lächeln.
Veröffentlichung: 20. Januar 2023 (RCA International / Sony Music)
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